Über die Anzahl der Dinge

Manuel van der Veen zu den Stillleben und Stadtlandschaften von Lars Lehmann

(Was hier zu lesen ist kann nur ungefähr das wiedergeben, was Inhalt der Eröffnungsrede war)

Abgesehen von uns Betrachtenden ist der Raum hier voll von Dingen. Wir tragen sie an unserem Leib, in unseren Taschen und Beuteln. Sie stehen und hängen hier im Raum verteilt. Sie füllen unser Zuhause, erleichtern und bereichern unsere Tagesabläufe. Wir kaufen und verkaufen Dinge, stellen selbst welche her. Benutzen oder betrachten die Dinge einfach nur. Und dennoch waren die Dinge nicht immer darstellungswürdig in der Kunst. Das Stillleben dagegen erhebt die Dinge zu Protagonisten. Und wir sind hier umgeben von einer Vielzahl an Stillleben, die alle von einem Maler stammen: Lars Lehmann. Der Titel eines Buches über das Stillleben lautet – Das Übersehene in der Kunst. Diese Diskrepanz erfüllt das Stillleben: das was jeden betrifft, uns alle umgibt und dennoch häufig übersehen wird ist Thema des Stilllebens. Es ist der Ort an dem die erhabene Malerei auf den Boden der Realität trifft. Dafür müssen zwei Aspekte des Stilllebens im Besonderen hervorgehoben werden, die es für die Kunstgeschichte höchst relevant machen. 1. Das Stillleben zeigt Dinge und ist selbst ein Ding, Ist Leinwand, Rahmen und Farbe. Dies mach es zu einer selbstreflexiven Malerei. 2. Kommt es einem Mangel der Malerei entgegen, da diese bekanntlich keine Bewegung darstellen kann. Stillleven meint ja eben, dass dort nichts passiert. In Bezug auf die Malerei von Lars Lehmann möchte ich ebenfalls zwei Dinge festhalten, die, meines Erachtens, entscheidend sind. Der erste Punkt ist schnell umrissen, aber deswegen nicht weniger von Bedeutung. Lars Lehmann ist ein Maler, der die Technik der Malerei auf altmeisterliche Weise beherrscht. Ich erwähne das, weil das in der zeitgenössischen Kunstszene keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Der zweite Punkt handelt davon, dass Lars Lehmann diese altmeisterliche Technik mit einem zeitgenössischen Kontext kombiniert. Dieser Kontext betrifft die Frage nach der Anzahl der Dinge. Natürlich hat auch das seine Vorläufer in der Kunstgeschichte. Eine Unterkategorie des Stilllebens entwickelt sich in Antwerpen als Prunkstilleben. Diese loten das Verhältnis von Fülle und Leere aus. Die Bilder sind gefüllt bis an die Ränder mit Köstlichkeiten und Kostbarkeiten. Doch sie handeln auch von einer Leere, kann man die Köstlichkeiten ja nicht essen und die Kostbarkeiten nicht verzehren. Die Bilder von Lehmann greifen die Prunkstillleben auf, um sie auf eigen Weise fortzuschreiben, außerhalb des Luxus. Dies ist gut am Bild hier gegenüber mit dem Titel DAS GELD darzulegen. Als eine Form von Sprachspiel, übersetzt er Synonyme der Alltagssprache für Geld ganz buchstäblich in die Welt der Dinge. Abseits von Luxus und Prunk, stehen da Asche, Kohle, Stroh und Kies ordentlich separiert und liebsam in Behältern gelagert. Das Licht fällt gemütlich ohne den Dingen einen falschen Glanz aufzuzwingend. Ich denke mit dem Verhältnis von Fülle und Leere, außerhalb des Luxus, liegt ein Gedanke in diesen Gemälden, der den Nerv der Zeit trifft. Die Schlagzeilen wiederholen gerne den Passus, dass wir in einer .berfülle von Dingen leben und dennoch mit einer stetigen (Sinn)Leere zu kämpfen haben. Ebenso sind wir alle mit einer Vielzahl von Dingen konfrontiert ohne deswegen wohlhabend zu sein. Doch weder Leere noch Fülle sind in der Malerei als gut oder schlecht zu bewerten. Eine Menge an Formen und Farben kann ebenso schwierig im Bildraum zu platzieren sein, wie eine einzelne ovale Form. Hinten links hängt mit dem Titel EI (FUNDUS 3), wie ich finde eine wunderbare Malerei. Betrachten wir die Vielzahl an Öffnungen, die hier in MANTRA zu sehen sind. Alle Behälter sind leer, keiner bietet ein Versprechen für Inhalt. Und doch ist in jeder Öffnung ein Echo zu hören: Der gelbe Helm spiegelt sich leicht im Blau des Eimers. Dieser wiederum im Roten, dessen grüner Henkel die Lücke überspringt und den Wischmopp aufnimmt. Dessen Öffnung ist schräg platziert und zeigt damit über die gelbe Schüssel hin zum weißen Eimer. Den Höhepunkt bildet natürlich die Kiste, doch strebt auch der Leitkegel nach oben und der offene Deckel des Kanisters. Die Farben und Formen sind ausgewogen und dennoch hoch komplex verschachtelt. Stehen die ovalen Öffnungen doch auf gemeinsamen ovalem Grund. In dieser Ausstellung ist es möglich diese Bezüge und Kommunikationen weiter zu verfolgen. Lars Lehman hat drei weitere Bilder hier gehängt, die ein sehr ähnliches Motiv aufweisen. Ganz wunderbar kann man dort beobachten wie sich das Bild durch kleine Abweichungen verschiebt. Es ist wichtig zu bedenken, dass Lehmann die Gegenstände tatsächlich vor sich aufbaut und arrangiert. Er sammelt Dinge, auch Gläser und kuriose Gegenstände. Walter Benjamin, sagt dass das Dasein des Sammlers zwischen den Polen der Ordnung und Unordnung changiert. Was hier auf den ersten Blick in der Fülle als Unordnung entgegenkommt, erhält bei genauerem Betrachten eine Ordnung außerhalb der Funktion. Während wir in MANTRA die Ordnung auf rein formaler Ebene erschließen können, kommt in anderen Gemälden der Blick durch die Komposition der Gegenstände in Bewegung. Das Bild DER GRAUE AFFE erinnert an eine Wunderkammer. Der passive Affe gerät leicht aggressiv mit dem Schläger neben ihm, wie auch das Auto ohne Reifen. Ein Krokodil steht für die Exotik auf die sich die Krüge, Kannen und Kanister türmen. Flöten ähnliche Gegenständen bestätigen die Vertikale. So flirrt der Gesang des Wunderbaren im Bild, während der Vogel schweigt. Ordnung und Unordnung entfalten sich auf dem Schauplatz der Farbe, im Theater der Komposition, das Lehmann durchgängig studiert und immer wieder neu zusammenfügt. Ich möchte zum Ende noch eine Verbindung ziehen zwischen den Stillleben und den Landschaften, vorwiegend Stadtlandschaften, die in einem Raum weiter hinten zu sehen sind. Für Immanuel Kant haben Haushaltsgerät und Gebäude folgendes gemeinsam: Sie oszillieren zwischen ihrem Gebrauch und der zweckfreien Ästhetik. Das Stillleben nutzt diese Ambivalenz, lotet sie aus und spielt damit. So stapelt Lehman die Dinge teils wie Stockwerke. Sie türmen sich dann auf wie hier im Bild DER GRAUE AFFE oder in DIE SCHWARZE STADT, die keine Stadt ist, sondern aus Dingen besteht. Lars Lehman reduziert die Dinge oder Baukörper auf die ihnen zugrundliegenden geometrischen Formen und baut damit seine Bilder. Ist doch auch die Ansammlung von Eimern vor diesem blauen Himmel so etwas wie eine Skyline. Und vergessen wir nicht, dass nicht nur die meisten der Bilder voll sind, sondern dass gleichzeitig viele Stillleben hier zu sehen sind. Die Anzahl der Dinge im Bild multipliziert sich mit der Anzahl der Bilder. Zwischen der Vielzahl an Dingen sind Lücken für unsere Aufmerksamkeit, um die Beziehung unter den Dingen zu erschließen. Ich schlage vor, verfolgen sie die Dinge, folgen sie der Ordnung und Unordnung, der Fülle und Leere. Das Leben der Menschen lässt sich lesen über die Ordnung der Dinge. Seien Sie aufmerksam für das Nebensächliche. In Lars Lehmanns Bildern können die auf den ersten Blick häuslich anmutenden Dinge, auf der Bühne des Stilllebens, fantastisch geraten.